Gepard 14, So viel Horizont
Versuch einer Annäherung
Die erste Aktion der Gastkünstlerin im gepard14: Installation eines Horizonts.
Aus gefundenen Ästen zeichnet Eva Baumann an den Wänden des Atelierraums auf Augenhöhe eine Horizontlinie. Der Effekt ist verblüffend: Wir befinden uns in einem durch Mauern begrenzten Raum und orientieren uns gleichzeitig vermeintlich ausserhalb davon, in einem imaginären und hinter der Horizontlinie unendlich scheinenden Raum.
Diese romantisch anmutende Geste ist ein starker Auftakt der Künstlerin und ein für ihre Werke typisches mehrdeutiges Statement: Wir können den Blick schweifen lassen, so wie wir es beim Betrachten einer Landschaft von einer Erhöhung aus tun, und ein Gefühl der erhabenen Distanz und innerer Verbundenheit mit dem Drumherum gleichermassen erfahren. Oder ist diese hölzerne „Hilfslinie“ die neue Referenz und als Aufforderung zur Horizonterweiterung zu verstehen? :Mensch, erweitere dein Bewusstsein - öffne dich!
Zu dem Horizont gesellt sich später eine Serie von Malereien auf Papier. Sie zeigen elliptische Darstellungen in Orange und Blau, die sich wie Film-Stills in einer kurzen Abfolge in nebelhafte Formen morphen und sich in Dunstschleier auflösen. Es könnten Wolken sein aber auch eine Anspielung auf den „Wandel der Dinge“. In einer Ecke des Raums bilden Ameisen eine Strasse - wir befinden uns bei den Insekten, auf die Eva Baumann in Ihrer Ausstellung einen Schwerpunkt setzt. Der erwiesene dramatische Rückgang der Insektenpopulation, verursacht durch menschliche Einflüsse, nimmt sie zum Anlass und organisiert während ihrer Residency im gepard14 öffentliche Workshops zur Fertigung von Insekten aus gefundenem organischen Material. Die Phantasie der Teilnehmer*Innen ist die einzige Grenze und es entstehen täuschend „echt“ anmutende Käfer, Mücken, Falter und Wanzen als Antwort auf eine Forderung nach mehr Biodiversität.
Künstler*Innen haben oft eine spezielle Gabe, die in konzentrierter Weise in ihren Werken zum Ausdruck kommt - bei Eva Baumann ist dies unter anderem die Gabe des Findens. Es scheint, als ob die Werke die Künstlerin finden - oder vielleicht auch zufallen, als Geschenk des Moments, der Achtsamkeit sozusagen. In jedem Fall ist sie eine aufmerksame Beobachterin ihrer Umgebung und findet auf ihren Spaziergängen durch Wälder, Wiesen, Treppenhäuser, Hinterhöfe und Parks das Rohmaterial für ihre Kunst: Samenkapseln, Blüten, Stängel, Knochen, das Gewölle einer Eule, seltsam geformte Steine aus dem Flussbett, Baumpilze, Hexen-Eier, Käfer, Wespen, Wanzen...
Die Fundobjekte erfahren meist eine Weiterverarbeitung und Eva Baumann tut dies in in subtil-poetischer Weise. Aus Baumpilzen und Wolle etwa wird ein verspieltes, raumgreifendes Werk mit dem Titel "Waldgeflüster", aus Pilzscheiben und feinem Garn das filigrane Objekt "Die Weisheit der Grossmütter". Eine Gruppe von natürlich geformten Steinen, den "ewigen Wandererinnen", erinnert an eine drollige Familie von Gnomen. In einer dramatisch anmutenden Vision der Künstlerin kleben sich dutzende Insekten mit Honig auf ein Papier und bilden mit ihren Körpern den „Brief an die Menschen“. Aus Föhren-Nadeln geschrieben steht der Satz: VON UNSEREN FÄHIGKEITEN HER KÖNNTEN WIR HÜTERINNEN DER ERDE SEIN- die Sentenz löst sich auf in undeutliche Fragmente von Buchstaben, die unvollendet oder zerfallen wirken. Den wahren Inhalt müssen wir mit uns selber aushandeln.
Im Kunstraum gepard14 erschafft Eva Baumann eine All-Over Installation in rund 30 einzelnen Arbeiten mit philosophischem Tiefgang, die uns auf verschiedenen Ebenen unmittelbar und direkt anspricht. Ihre Kunst ist analog und handmade und wirkt in ihrer Materialität fragil und vergänglich. Sie ist aktivierend, indem sie die Bertachter*Innen sensibilisiert und anregt genauer hinzusehen. In ihrem Wesen ist sie aktivistisch aber nicht anklagend. Die Künstlerin legt Spuren und lässt gleichzeitig Raum für persönliche Interpretationen. Sie schafft Brücken vom Natürlichen, zum Menschlichen, zum Schamanistischen, und setzt sich damit für einen ganzheitlichen und sorgfältigen Umgang mit unserer Umwelt und ihren Ressourcen ein. Ihre Arbeiten wirken wie ein Vergrösserungsglas auf die in der Natur ablaufenden Prozesse, denen wir alle unterworfen sind. Eva Baumanns Kunst steht in erster Linie für sich selber, nimmt für sich aber auch in Anspruch aktuelle gesellschaftspolitische Themen zu verhandeln - und dies auf Augenhöhe.
Marco Giacomoni